Interview
Richard C.Schneider hat Hamas-Chefs getroffen, die militantesten Siedler auch. Er hat Kriege an vorderster Front miterlebt, bekommt Bilder von Attentaten nicht mehr aus dem Kopf. Der langjährige Israel-Korrespondent der ARD über die «totale Sinnlosigkeit» in Nahost und die prekäre Zukunft des Hightech-Landes.
Andreas Scheiner
10 min
Herr Schneider, wie weiter mit Israel?
Prophezeiungen im Nahen Osten mache ich lieber nicht.
Die Justizreform scheint bis Mitte Juli ausgesetzt zu sein, und dann?
Dann sind die Probleme sicher nicht gelöst. Angenommen, Netanyahu lenkt endgültig ein, die Justizreform würde gekippt, die Protestbewegung hätte gewonnen: Das würde nichts daran ändern, dass in etwa zwei Jahren rund 50 Prozent aller Erstklässler in Israel entweder Araber oder ultraorthodoxe Juden sind. Kinder, die zumeist eine von Haus aus schlechtere und für die moderne Welt nicht geeignete Erziehung haben. Natürlich ist das für die Entwicklung eines Landes, das ein Hightech-Land ist, verheerend. Und in etwa zwanzig Jahren ist jeder Vierte in Israel ultraorthodox. Wirtschaftlich dürfte es den Bach runtergehen.
Demografisch ist es hoffnungslos?
Ja. Aber wie hat schon Theodor Herzl gesagt: «Wenn ihr wollt, ist das kein Märchen.» Und wenn ich mir die Geschichte Israels anschaue, war dieses Land schon so oft am Rande des Abgrunds, und dann geschah ein Wunder. In den 1990er Jahren gab es Prognosen, wonach es in wenigen Jahren eine muslimische Mehrheit geben würde. Was für Israel als jüdischen Staat ja das Ende wäre. Stattdessen plötzlich: das Ende der Sowjetunion. Über anderthalb Millionen sowjetische Juden ziehen nach Israel. Unter ihnen Ingenieure, Physiker, Mathematiker, Atomwissenschafter: die Basis des Hightech-Wunders von heute. Also, wenn die Entwicklung linear verläuft, dann muss man sagen: Ja, in zehn, zwanzig Jahren ist es vorbei mit Israel. Aber man hat in der Geschichte dieses Landes immer wieder gesehen, wie sich die Dinge radikal verändern können.
Sie sind in Deutschland aufgewachsen. Wie erinnern Sie sich?
Ich bin Jahrgang 1957. Bin also zwölf Jahre nach Kriegsende geboren. Ich habe hier in München noch in Ruinen gespielt. Die Generation der Täter war um uns herum. Meine Eltern waren Holocaustüberlebende. Der Grossteil meiner Familie ist umgebracht worden. Wir wuchsen als Kinder auf in einem Umfeld, in dem uns klar war: Da draussen ist es gefährlich. Nur drinnen gibt es Sicherheit.
Drinnen?
Im jüdischen Umfeld, in dem man sich bewegte. In der Synagoge, im jüdischen Jugendklub, zu Hause bei jüdischen Freunden. Im katholischen Bayern hing im Klassenzimmer ein riesiges Kruzifix an der Wand. Was mir klarmachte: Ich gehöre nicht dazu.
Es wurde ungemütlich?
Echte Konfliktsituationen erlebte ich erst an der Universität. Wo ich mit diesen linken Kreisen konfrontiert war: ideologisch pro palästinensisch, antiisraelisch, antizionistisch. Mit antisemitischen Parolen, die sie gar nicht mehr bemerkten. Diese Haltung: Wir sind ja links, also können wir gar keine Antisemiten sein... Das geht eigentlich schon zu Zeiten von Marx los, es gibt Texte im frühen Sozialismus, der parallel zur zionistischen Bewegung entstand, wo Sozialisten sich darüber aufregen, dass die Juden ihr eigenes Süppchen kochen und nicht bereit sind, der Internationalen beizutreten.
Wann wurde Israel für Sie ein Thema?
Das erste Mal war ich mit meinem Vater in Israel, 1966. Ich war neun Jahre alt und verliebte mich in das Land. Ich spürte die Freiheit, so sein zu können, wie ich bin. Später fuhr ich immer öfter hin. Aber ich war nicht naiv. Ich habe auch die Spannungen gesehen. Die Mechanismen der Siedlerbewegung. Ich verbrachte als Journalist viel Zeit in Siedlungen und habe dabei eines verstanden: Die Siedler sind die einzige Gruppe in der israelischen Gesellschaft mit einer Vision. Einem Leuchtturmprojekt. Die werden es durchziehen, das wusste ich. Ich bin sehr früh in den besetzten Gebieten gewesen.
Sie erwähnen in Ihrem Buch auch, wie man in den Gazastreifen fuhr, dort ins Fischrestaurant ging...
Das war normal. Es gab in Gaza die besten Fischrestaurants. Man fuhr mit dem Auto hinüber, setzte sich ans Meer. Die Palästinenser waren glücklich, dass man kam, weil es natürlich gut fürs Business war. Sie konnten auch alle Hebräisch. Oder man sass in Jerusalem mit Freunden und sagte: Komm, lass uns Kaffee trinken gehen in Hebron. Man ging einkaufen in palästinensischen Städten, weil es billiger war. Alles kein Thema. Natürlich, es gab Patrouillen. Und dass die Palästinenser mit der Besatzung nicht glücklich waren: auch klar. Aber so gut wie alle konnten sich überwiegend frei bewegen.
Und wann ist es gekippt?
1987. Mit Beginn der Ersten Intifada. Es gab auch Phasen in meiner Zeit als Korrespondent für die ARD, wo ich nicht nach Gaza konnte, weil es Drohungen gab von der Hamas. Weil wir eine Berichterstattung gemacht hatten, die ihnen nicht gefiel. Sie zeigten die Muskeln: Wir können auch anders. Aber letztlich haben sie ein Interesse daran, dass man über sie berichtet.
Erinnern Sie sich an brenzlige Situationen?
Es gab eine Situation mit einem palästinensischen Kameramann, der festgenommen wurde. Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn freizubekommen. Ich hatte in der «Tagesschau» und den «Tagesthemen» jeden Abend einen Slot, wo ich erzählen konnte, was los ist. Ich wollte alles so publik wie möglich machen, damit sie ihn nicht behelligen. Sie haben ihn trotzdem behelligt. Aber er kam frei, nach vielen Gesprächen mit der Hamas. Und dann haben wir gemacht, was man in so einem Moment machen muss: Wir sind wieder hinübergefahren und haben die Wogen geglättet. Damit man wieder arbeiten konnte.
Wie geht man mit der eigenen Angst um?
Es ist so schwer zu erklären. Man geht damit um, indem man damit umgeht. Es gab Situationen, nicht nur bei den Palästinensern, auch bei Siedlern oder Ultraorthodoxen, wo wir als Presse nicht erwünscht waren. Wenn man trotzdem hinging, wurde man angegriffen, physisch bedrängt. Man hat in die Organisationen hinein, die einem gefährlich werden können, aber auch Kontakte. Das heisst nicht, dass man sich mit ihnen anfreundet. Aber man muss für die ein Mensch sein, den sie kennen. Man hat schon einmal miteinander Kaffee getrunken. Ich habe dabei nie verheimlicht, wo ich stehe. Sondern immer klargemacht: Ich habe meine Kriterien als Journalist. Ich werde die Dinge benennen.
Es sitzt einem also ein Hamas-Chef gegenüber, man trinkt Kaffee. Wie reagiert der auf einen?
Sehr höflich. Das ist ja so «tricky». Ich sass im Garten von Mahmud az-Zahar, dem grossen alten Mann der Hamas. Ich habe mit Ismail Haniyeh, dem jetzigen Hamas-Chef, Kaffee getrunken. So wie wir beide hier am Tisch sitzen. Dann kommt natürlich die ganze Propaganda, das ist ja klar. Aber der Umgang ist erst einmal: Du bist mein Gast hier, trinkst mit mir Kaffee, du wirst nicht angerührt. Was danach geschieht, ist ein anderes Thema.
Kann man einem Haniyeh auch widersprechen? Bringt das etwas?
Das hat keinen Sinn. Ich kann diese Leute sowieso nicht umstimmen. Es geht mir darum, entweder zu entlarven, was sie sagen, oder es so zu zeigen, dass der Zuschauer seine eigenen Schlüsse ziehen kann: Aha, das also ist eure Denkweise! Auch wenn ich mit einem ultraorthodoxen Rabbiner rede, werde ich nicht versuchen, ihn für die LGBTQ-Gemeinde zu begeistern, das ist sinnlos. Stattdessen werde ich ihn so lange fragen, was er von LGBTQ halte, bis er sich entlarvt. In der Regel geht das schnell.
Sie haben auch mit einigen der berüchtigten Siedler gesprochen.
Zu ihnen habe ich einen guten Zugang, weil ich selber einen orthodoxen Hintergrund habe. Ich weiss, wie ich mit denen reden muss. Ich kenne die Siedler der ersten Stunde. Daniella Weiss, Jehuda Etzion. Die wissen, dass ich kein Fan von ihnen bin. Aber sie schätzen meine Berichterstattung, weil ich ihr Denken verstehe. Ich teile es nicht, nicht im Ansatz. Aber ich verstehe, woher es kommt. Die typischen linken israelischen Journalisten verstehen deren Welt häufig überhaupt nicht.
Faszinieren Sie solche Begegnungen?
Als Journalist ist es doch immer spannend, Leute aus gesellschaftlichen und ideologischen Kreisen kennenzulernen, zu denen man so gar nicht gehört. Wenn man einem Jehuda Etzion gegenübersteht...
...der einen Bombenanschlag auf den Felsendom geplant hatte...
...oder auch einem palästinensischen Terrorattentäter, der mir zeigte, wie er Kassam-Raketen auf Israel abfeuern würde, während ich neben der Rakete stand, da denkt man: «Ich bin doch im falschen Film, spinnt der?» Aber ich empfinde diese Situationen gar nicht einmal als so skurril. Vielmehr lernt man etwas zu verstehen: Es ist eine Art «Normalität», in der man sich bewegt. Millionen von Menschen müssen sich in solchen «Normalitäten» bewegen.
Sie klingen resigniert.
Ich habe ziemlich viel erlebt, auch in anderen Konfliktgebieten. Kriege, Terroranschläge, Aufstände, Gewalt. Und wenn das dann immer und immer wieder passiert, dann ist das irgendwann wie «Und täglich grüsst das Murmeltier». Man kennt die Sprüche der Politiker beider Seiten, man kennt die Klagen der leidenden Bevölkerung, man weiss im Vornherein, welche Bilder man drehen muss, um die «Tagesschau» zu bedienen. Man wird auch zu einem Voyeur des Leids, das man ja darstellen muss. Das ist nicht wörtlich gemeint, aber man denkt so in der Art: So ein abgerissenes Bein habe ich schon vor zwanzig Jahren vor der Linse gehabt.
Man wird zynisch?
Ja, es ist auch Zynismus, den man entwickelt. Weil, wenn wieder ein Krieg losbricht, man sofort weiss, wie es endet. Nämlich mit nichts. Tausende gestorben. Für nichts. Die totale Sinnlosigkeit. Und gerade bei diesem palästinensisch-israelischen Konflikt weiss man, dass die nächste Runde nur die Vorbereitung auf die übernächste Runde ist. Oder wie mein Kameramann sagte: «So, wir fahren nun wieder auf den Hügel, da sind noch die Einbuchtungen meines Stativs vom letzten Krieg.» Man weiss schon, von wo aus man die besten Bilder bekommt. Man war ja schon zigmal da. Das erhält dann so eine Dauerschleife. Ähnlich ist es bei Terroranschlägen. Man kommt an und sieht Dinge, die man dem Publikum gar nicht zeigen kann. Wirklich, wirklich schrecklich. Körperteile, die in Bäumen hängen. Hautfetzen, die an den Wänden kleben. Blutlachen, durch die man watet, wo man dann anschliessend die Schuhe wegschmeisst. Es sind Bilder, die holen einen immer wieder ein.
Haben Sie Albträume?
Auch Journalisten leiden unter posttraumatischer Belastungsstörung, klar. Interessanterweise sind das in Albträumen oft nicht Bilder aus dem letzten Krieg. Sondern Sachen von vor zwanzig oder sogar dreissig Jahren.
Darüber reden, hilft das?
Therapeutisches Reden hilft. Aber es gibt etwas, was ich erst spät gelernt habe zu verstehen. Sehen Sie, meine Mutter starb vor drei Monaten, sie war 98. Sie hatte das Ghetto von Budapest überlebt und vier Konzentrationslager. Es war klar, dass sie vieles nicht erzählte. Ich habe sie immer wieder gefragt: Warum erzählst du mir das nicht? Sie sagte: «Darüber kann ich nicht reden. Du verstehst es sowieso nicht.»
Sie können auch über gewisse Dinge nicht reden?
2014 war der dritte Gazakrieg. 51 Tage. Es war ein Krieg, wo wir alle, die ausländischen, die israelischen Kollegen, die palästinensischen, nach 14 Tagen bereits bis in die Knochen erschöpft waren. Uns war bewusst, dass dieser Krieg sehr lange dauern und sehr blutig würde. Und verändern würde er auch nichts. 51 Tage hat man durchgearbeitet. Es beginnt mit dem Morgenmagazin um 6 Uhr und hört mit dem Nachtmagazin um 2 Uhr auf. Ständig Live-Schaltungen, ständig an der Front. Ich bin nach dem Krieg zurückgekommen nach München und sofort in ein posttraumatisches Stresssyndrom verfallen. Depressiv, fertig, ausgelaugt, erledigt.
Haben Sie Hilfe gesucht?
Ja, ja, klar. Und dann war ich in dieser Zeit öfters bei meiner Mutter zu Besuch. Die sah mich in ihrem Wohnzimmer herumhängen wie so ein Schluck Wasser in der Kurve und sagte: «Wenn du mit mir über den Krieg reden willst, du weisst, bei mir kannst du das.» Und da sagte ich, ohne darüber nachzudenken: «Es gibt Dinge, die man im Krieg erlebt hat, über die kann man nicht reden.» Sie schaute mich lange an: «Ja, ich weiss.» Es war ein Moment, wo wir so ein Gefühl hatten: Wir verstehen uns. Aber obwohl ich Krieg erlebt habe, kann ich doch nicht verstehen, was meine Mutter im KZ erlebt hat.
Weil das noch einmal eine andere Dimension hatte?
Ich war kein Opfer. Ich war vielleicht in Gefahr. Die Raketenangriffe kamen auf die Bude, wo ich gewohnt habe. Aber ich konnte mich in den Jeep setzen und nach Hause fahren. Ich hatte zu essen, ein Bett. Ich bin ja auch nicht der grosse Kriegsreporter. Es gibt Kollegen, die sind ununterbrochen in Kriegen, wirklich Hardcore. Kollegen, die jetzt in der Ukraine an vorderster Front sind: Ich habe nicht einmal im Ansatz die Dinge durchgemacht, die die durchgemacht haben. Aber man versteht manches. Meine Mutter hat später auch angefangen, mir doch noch ganz bestimmte Details vom Krieg zu erzählen. «Dir kann ich das erzählen», hat sie gesagt, «weil du verstehst, was Krieg ist.»
Haben Sie ihr auch von Ihren Erlebnissen erzählt?
Sie war zu alt. Ich wollte sie damit nicht konfrontieren. Ich wollte sie nicht mit Bildern konfrontieren, die bei ihr vielleicht noch einmal etwas triggern würden. Nein, ich habe nichts erzählt. Und es gibt bis heute Dinge, die erzähle ich niemandem. Auch nicht einem Therapeuten, ich weiss: Auch der versteht mich nicht.
Er sagt, was Sache ist
Als langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, der seit fast zwanzig Jahren in Tel Aviv lebt, hat Richard C. Schneider schon alle Diskussionen über den jüdischen Staat vorwärts und rückwärts geführt. In seinem neuen Buch bringt er «Die Sache mit Israel» nun auf den Punkt. Beziehungsweise auf fünf Punkte: Er stellt sich selbst jene fünf Fragen, um die sich alle Aufregung im Kern dreht: Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinensern? Schneiders Antworten sind bestechend unideologisch, analytisch fundiert und schnörkellos. Er lässt sich von keiner Seite vereinnahmen. Aber er sagt, was Sache ist.
Richard C.Schneider: Die Sache mit Israel. DVA, München 2023. 192S., Fr. 34.90.
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